Friedrich Hölderlin: Der Neckar
In deinen Tälern wachte mein Herz mir auf
 
Zum Leben, deine Wellen umspielten mich,
 Und all der holden Hügel, die dich
 Wanderer! kennen, ist keiner fremd mir.
Auf ihren Gipfeln löste des Himmels Luft
 Mir oft der Knechtschaft Schmerzen; und aus dem Tal,
 Wie Leben aus dem Freudebecher,
 Glänzte die bläuliche Silberwelle.
Der Berge Quellen eilten hinab zu dir,
 Mit ihnen auch mein Herz und du nahmst uns mit,
 Zum stillerhabnen Rhein, zu seinen
 Städten hinunter und lustgen Inseln.
Noch dünkt die Welt mir schön, und das Aug entflieht
 Verlangend nach den Reizen der Erde mir,
 Zum goldenen Paktol, zu Smyrnas
 Ufer, zu Ilions Wald. Auch möcht ich
Bei Sunium oft landen, den stummen Pfad
 Nach deinen Säulen fragen, Olympion!
 Noch eh der Sturmwind und das Alter
 Hin in den Schutt der Athenertempel
Und ihrer Gottesbilder auch dich begräbt,
 Denn lang schon einsam stehst du, o Stolz der Welt, 
Die nicht mehr ist. Und o ihr schönen
 Inseln Ioniens! wo die Meerluft
Die heißen Ufer kühlt und den Lorbeerwald
 Durchsäuselt, wenn die Sonne den Weinstock wärmt,
 Ach! wo ein goldner Herbst dem armen
 Volk in Gesänge die Seufzer wandelt,
Wenn sein Granatbaum reift, wenn aus grüner Nacht
 Die Pomeranze blinkt, und der Mastixbaum
 Von Harze träuft und Pauk und Cymbel
 Zum labyrinthischen Tanze klingen.
Zu euch, ihr Inseln! bringt mich vielleicht, zu euch
 Mein Schutzgott einst; doch weicht mir aus treuem Sinn
 Auch da mein Neckar nicht mit seinen
 Lieblichen Wiesen und Uferweiden.
- Friedrich Hölderlin