Die Worte Jesu Christi wurden in San Giacomo besonders ernst genommen und viele Jahrhunderte, vielleicht auch Jahrtausende waren von den Bürgern der Stadt dazu aufgewendet worden, die richtige Auslegung der heiligen Bibel zu ergründen. Das Verzeichnis der Kirchengemeinden in San Giacomo las sich dementsprechend wie ein Katastrophenbericht oder eine Metapher auf die Evolution des Lebens auf der Erde. Gab es zur Zeit der Stadtgründung lediglich eine Kirche, katholisch, die den Namen der Siedlung trug bzw. andersherum, explodierte die Zahl der Nebenkirchen in den folgenden Jahrhunderten. Da gab es die Gemeinde „Von der apokalyptischen Frau“, die daraus entstanden war, dass ein gewissenhafter Doktor der Theologie zur Überzeugung gelangte, der Offenbarung des Johannes müsse mehr Gewicht zugestanden werden als der restlichen Schrift, nachdem ihm im Laufe einer Zwölf-Stunden-Messe am Johannistag schwindelig geworden war und er sich nun gerade an einer Statue der Maria in Gestalt der „apokalyptischen Frau“ noch festhalten konnte.Wieder andere Gruppen trennten sich aufgrund für sie wichtiger Streitfragen des Glaubens, wie jener darum, aus welcher Gesteinsart die Gebotstafeln des Mose gemacht gewesen seien oder ob es „Wein und Brot“ oder nicht vielleicht „Brot und Wein“ heißen müsse.
So hatten Frau und Herr Manottidil nicht wenige Kirchenbauten auf ihrem Weg durch die Gassen der Stadt zu bestaunen. Da gab es die wuchtige Barockkirche „Heiliger Stefanus unter den Palmen“, in der die „Kongregation der Brüder in Christi zur höheren Ehre aller Heiligen“ ihre Gottesdienste abhielt, ein Gebäude, das aus weißem Marmor erbaut war, der Andachtsraum quoll über vor reich mit Gold, Perlmut und Jade verzierter Statuen, die schier alle Heilige des großen christlichen Legendenschatzes zierten und jede Stunde hielt ein charismatischer Bruder eine Messe zur Ehre eines durch ein kompliziertes, sich an Zahlenspielen in der Schrift orientierendes Lotterieverfahren ausgewählten Heiligen.
„Ob das das Wesen der Religion ist?“ fragte Julisanda ihren Gatten „Zufall, Zufall und Menschenwerk?“„Du irrst Dich!“ entgegnete dieser. „Es ist eher wie Schach. Ein unendliches Geflecht von Kombinationen, wohlgeordnet und geheimnisvoll durchdacht. Springer auf C2!“.
Staunend standen die beiden Eheleute im heißen Nachmittagswind auf dem Platz vor der Kirche und schauten die beiden gewaltigen Türme hinauf.
„Oh! Signore, Signora, verzeihen Sie bitte, aber habe ich dort gerade eine Schachmetapher gehört?“ lies sich ein liebenswert aussehender Herr mittleren Alters da hinter den beiden vernehmen. Sein Haar war von wichtigem Grau, seine Kleidung sauber und elegant, weißes Jackett, alte, aber gepflegte Lederschuhe.„Wissen Sie, Schach ist mein Leben, mein seliger Vater brachte mir dieses prächtige Spiel schon im Alter von 8 Jahren bei, und ich liebe Schach. Es beruhigt den Kopf und weckt den Geist! Es ordnet die Gedanken und pflegt die Empfindungen“
Das Manottidil nickte erfreut und sagte, eine kurze Bedenkzeit einhaltend: „Unser aller Leben ist Schach. Schach und Religion, Schach und das Wetter, Schach und Politik, Schachreligion und Schachpolitik. Kaum einer schafft es, dem Rang einer Schachfigur zu entlaufen.“„Maurizio ist mein Name.“ stellte sich der Mann vor. „Mit Einverständnis der Dame und des Herrn würde ich Sie gerne durch meine Heimatstadt führen. Nie werden sie in der Fremde solche Einblicke in die Wesensart eines Ortes, seine Essenz, erhalten als wenn sie von einem Eingeweihten geführt werden. Das Leben ist, wie sie sagen, wahrscheinlich Schach. Reisen aber ist Gnostizismus, Alchemie und Freimaurertum.“
Die drei schüttelten sich die Hände und spazierten, als schlafwandelten sie, gegen die Richtung des Windes, der von Südost her wehte.
Vor einem Haus schlicht-eleganter Bauweise blieb Maurizio stehen, seinen Arm auf das Gebäude richtend. „Signora, Signore, hier sehen sie das Wohnhaus des Stadtrates Mäander, welcher im Jahr 2079, Hochrenaissance, hier wirkte. Sein Lebenswerk war der Versuch, die Stadtmauern blau zu bemalen, um die Melancholie, die von der See herreinschwappt, zu spiegeln. Er nahm sich mit 39 Jahren, so sagt man, das Leben, indem er von den Klippen in der Kugelseebucht sprang.“
Der nächste Halt war eine grobe, romanische Kapelle, grau von Alter, abgeschliffen von Regen und Wetter.
„»Sankt Purgatorium der verirrten Seelen« heißt dieses Kirchlein. Die Gemeinde ist vor vielen hundert Jahren entstanden, als ein Hochwürden Magnaculpea, angeblich ein Rumäne, die Christusworte »Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.« begann strikt auszulegen. Seitdem vermeiden seine Nachfolger nicht nur nach Möglichkeit das Sprechen, sondern auch Arbeit, Familie und alles andere. Nun ja. Lassen Sie uns doch einen kurzen Blick hineinwerfen, bevor die Nachmittagsmesse gelesen wird.“
Im Inneren der Kirche herrschte ein trübes Dämmerlicht. Keine Kerze erhellte den Raum, kein Zierrat war zu erblicken, nur einige sehr plastisch gezeichnete Darstellungen der sieben Todsünden waren an den traurigen Steinwänden zu erblicken, lediglich drei oder vier sehr dürre Gläubige knieten auf groben, abgewetzten Bänken, ins Gebet vertieft.
„Wahrlich, ein irdisches Purgatorium.“ bemerkte das Manottidil „Nicht schlecht. Aber möglicherweise doch ein bisschen trostlos? Lasst uns wieder ins Freie gehen.“
Man schritt, von Andacht ergriffen, ins Sonnenlicht hinaus.
„Nun sollen Sie beide das genaue Gegenteil des eben erlebten ansehen!“ sprach der Reisebegleiter unserer beiden Eheleute leutselig. „Bitte folgen Sie mir!“ und eilte voran.
In einem vormaligen Weinlagerhaus hatte die Kirchengemeinde „St. Florian reißt dem dumpfen Schriftgelehrten das Buch aus der Hand“ ihr Gotteshaus eingerichtet. „Es gibt dort keine Messen und die Gemeindeglieder kämen im Traum nicht darauf, in der Bibel zu lesen. Sie sind der festen Überzeugung, durch ein nachdrücklich gelebtes Leben und aktive Nächstenliebe alles zu tun, was getan werden muss. Dabei berufen jene sich übrigens auf die haargenau gleiche Stelle in der Schrift wie die Purgatoristen“ In der großen Halle, in der nur einige Stühle und Kübel, in denen Pflanzen grünten, standen, rannten einige ausgelassen lachende Kinder in Schlangenlinien umher. Ein Hund bellte in einer Ecke die Wand an und vier Männer quäkten, begleitet von einer verstimmten Gitarre, das Lied „Alter Seemann von Kreta, Du gabst einem Bettler all Dein Geld!“, und dies alles vermengte sich zu einer scheußlichen Kakophonie. Die drei Spaziergänger verließen den Raum zügig wieder.
„Mich würde sehr interessieren, wie Sie, Bester, eigentlich zur Religion stehen, in einer Stadt, die scheinbar keinen Mangel an solcher leidet!“ sprach das Manottidil eifrig zu Maurizio, dem Reisebegleiter. Dieser kratzte sich eine Weile lang am Kopf, bevor er bedächtig antwortete. „Wahrscheinlich bin ich ein Ungläubiger. Ich nehme den Glauben zu ernst, um einfach zu glauben. Glauben ist keine Zitrone, meine Herrschaften, Glauben ist keine Schachpartie. Und eine Schachpartie ist keine Zitrone.“
Das Manottidil und Julisanda nickten wissend und voll des guten Gefühls, hier einen wahren Seelenverwandten gefunden zu haben.
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